((Aus «Martha, du nervst», der offiziellen Biographie von Demenzdiakonisse Brigitta Schröder, Wörterseh Verlag, 2018))
Jahrhundertsommer 2003, staubtrocken die Sechseläutenwiese, über dem Bellevue flimmerte die Luft. Ich in Shirt und Shorts traf meinen Vater, er im zugeknöpften Regenmantel. «Seit wann bist du schon da?» Er schielte auf die Uhr, überlegte, und überlegte, und überlegte: «Seit drei Uhr.» Tatsächlich war es kurz nach Mittag. In dem Moment wusste ich: Nichts ist mehr wie vorher.
Seit Monaten schon fiel uns Vater auf, sein seltsames Verhalten. Er hatte zusehends Mühe, den Computer zu bedienen, erkannte die Ausschalttaste nicht mehr. Seine Briefe wurden wilder. Sätze fingen mit dem einen Gedanken an und hörten mit dem andern auf, Worte waren vertauscht, die Gross- und Kleinschreibung willkürlich. Und das bei einem Mann der Sprache!
Intelligent war er, gebildet und kultiviert. Tausende von Büchern in seiner Bibliothek, alle Werke der grossen Dichter. Vater war ein brillanter Rhetoriker, zitierte Goethes Faust auswendig. Ein Leben lang Deutschlehrer, Rektor am Realgymnasium Zürich, zuletzt Direktor an der Volkshochschule des Kantons Zürich, Oberst im Generalstab. Seine Welt war sein Geist, der nun zu bröckeln begann.
«Ich vermute, Jürg hat Alzheimer», flüsterte mir meine Mutter nach einem Sonntagsbesuch zu. Wir verabschiedeten uns am Gartentor. Sie presste die Lippen zusammen, zuckte mit den Schultern. Alzheimer! Ein Wort wie ein Schlag in die Magengrube. Betäubt fuhr ich nach Hause. Alzheimer? Ich wusste nichts darüber. Ausser, dass man vergisst.
Alzheimer ist eine brutale, tödliche Krankheit. Sie verändert alles in der Familie, für eine lange Zeit. 2012 verstarb mein Vater im «Doldertal», dem einzigen auf Demenz spezialisierte Alterszentrum der Stadt Zürich, der Villa Kunterbunt am Zürichberg, wie ich gerne sage: ein Haus mit speziellen Bewohnern, einem eigenen Rhythmus – eine Welt für sich.
Zwischen seinem Tod und den ersten verdächtigen Symptomen lagen zwölf Jahre. Die ersten sechs lebte mein Vater zuhause, betreut von meiner Mutter. Menschen mit Demenz müssen sich im privaten Umfeld an der gesunden Welt orientieren. Das führt mit dem Fortschreiten der Krankheit zur Überforderung, zu vielfältigen Problemen und zusätzlichen Frustrationen – auch bei den Angehörigen. Die Belastung ist enorm, sowohl physisch als auch psychisch. Der Alltag wird zum Kraft- und Willensakt.
Unfähig, sich selbst zu beschäftigen, folgte Vater meiner Mutter auf Schritt und Tritt. Er witterte eine Verschwörung, weil er nach und nach die Fähigkeit zu sprechen und zu lesen verlor, und nicht mehr verstand, was wir zu ihm sagten. Abstruse Ängste und Sorgen plagten ihn. Es gab Momente der lauten Wut und der stillen Verzweiflung, bei ihm, aber auch bei meiner Mutter.
«Als du vorhin gegangen bist, hat Jürg gefragt, wer denn der Mann gewesen sein, der uns besucht hätte», sagte sie mir eines Tages am Telefon. Ich hatte nichts bemerkt, Vater zeigte keine Blösse. Mein Verhältnis zu ihm war von jeher distanziert. Zu realisieren, dass er mich als Sohn nicht mehr erkennt, tat trotzdem weh.
Als Lehrer und Rektor im Gymnasium fanden ihn alle toll, einen Supertypen! Als Teenager dachte ich stets: Meinen wir denselben Mann? Ich erlebte ihn unnahbar, scheinbar desinteressiert an mir und meiner Lebenswelt. Zu den Schülern war er der Vater, zum Sohn der Lehrer. Verkehrte Welt. Wir konnten keine tiefe Beziehung zueinander aufbauen. Woran das lag? Ich weiss es nicht. Vielleicht der frühe Tod meines jüngeren Bruders, der mit zweieinhalb auf dem Operationstisch verstarb. Ein angeborener Herzfehler. Vielleicht war die Distanz meines Vaters sein emotionaler Schutz, wer weiss? Und als junger Erwachsener war ich selbst zu stolz, auf ihn zuzugehen. Ich hätte den ersten Schritt machen können, als er noch gesund war, tat es aber nicht. Erst in den Tiefen der Demenz fand ich den Mut dazu, mich ihm zu nähern.
In den ersten Jahren der Krankheit, so musste ich mir später eingestehen, wollte ich nicht alles wissen, arbeitete wahnsinnig viel und erlitt 34-jährig ein heftiges Burnout. Ich realisierte, dass ich mir bisher zu wenig Zeit genommen hatte, um meine Eltern in dieser schwierigen Lebensphase beizustehen. Ich suchte den Neustart, im Beruf und als Mensch. Nicht nur aus Liebe und Pflichtgefühl, sondern weil ich auch erkannte, dass die Krankheit Chancen bietet. Zum Beispiel die eigenen Wertvorstellungen neu zu überdenken.
Vater sprach nicht über seine Krankheit. Er litt still und für sich allein. Gesprächen ging er aus dem Weg. Wie es mit dem Haus weitergeht, wenn er eines Tages nicht mehr urteilsfähig sein sollte? Wir wussten es nicht. Er wollte keine Versicherungsfragen diskutieren, kein Patientenverfügung verfassen, nicht über die Zukunft reden. Betreuung? Pflege? Heim? Kein Thema. Statt sich mitzuteilen, verstummte er. Das machte es uns für uns Angehörige extrem schwierig. Seine Vogel-Strauss-Taktik mache ich ihm heute noch zum Vorwurf. Er nahm seine Verantwortung nicht wahr, liess uns alleine mit diesen wichtigen Fragen, die wir am Ende für ihn beantworten mussten.
Darum weiss ich heute, wie wichtig, ja wertvoll die offene Kommunikation ist. In der eigenen Familie, zu Verwandten, mit den Nachbarn. Demenz ist noch immer ein Tabuthema. Kein Wunder, hängen doch schlimme Gefühle dran: Scham, Schuld, Ekel, Wut, Aggression, um nur einige zu nennen. Aber je mehr und je offener man darüber spricht, desto besser klappt die Bewältigung, desto mehr Unterstützung findet man.
Demenz ist eine Krankheit, keine Schande! Diese Botschaft muss stärker unter die Menschen kommen. Deshalb habe ich «Demenz Zürich» initiiert, mit über 10’000 Fans und Followern die grösste digitale Community in der Schweiz zum Thema. Wir gehen dorthin, wo Menschen viel Zeit verbringen: in die Sozialen Medien. Wir betreuen Seiten, Kanäle und Diskussionsgruppen auf Facebook, Youtube, Instagram und Twitter. Der Erfolg beweist, wie gross das Bedürfnis nach unkompliziertem Austausch ist.
Ich appelliere an Angehörige, ihre Verantwortung wahrnehmen. Die Verantwortung nämlich, eigene Erfahrungen zu teilen und anderen Familien zugänglich zu machen. Das können wir weder an Ärzte delegieren, noch an Psychologen oder Forscher. Nein, wir selbst müssen lauter werden, und zwar über die Zeit unserer eigenen Betroffenheit hinaus! Andere Menschen sollen von unseren Erfahrungen profitieren und etwas mitnehmen auf ihrem ganz eigenen Weg. Und wenn’s nur ein wenig Trost ist und die Gewissheit: Ich bin nicht allein.
Für mich ist unverständlich, warum die kantonalen und nationalen Demenzplayer die Sozialen Medien nicht nutzen (und wenn, dann mehr schlecht als recht). Die Enttabuisierung von Alzheimer und Co. beginnt in der digitalen Welt! Was machen Sie bei einem Demenzverdacht? Sie googeln, recherchieren auf Facebook, tauschen sich online aus. Erst viel später nehmen Sie das Telefon in die Hand und rufen eine Beratungsstelle an.
Anders als bei körperlichen Leiden kann das grosse Vergessen lange Zeit versteckt werden. Meine Mutter figurierte als wandelndes Lexikon und half meinem Vater bei vielen Gelegenheiten, worauf sie das nichts ahnende Umfeld beschuldigte, sich übergriffig zu verhalten. Irgendwann mochte sie sich nicht mehr erklären, immer die gleiche Geschichte erzählen, die gleichen Fragen beantworten, die gut gemeinten aber unbedachten Tipps von Aussenstehenden hören. Also zog sie sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurück.
Mutters Belastung war riesig, sie bewegte sich nah an der Selbstaufgabe, leistete Bewunderswertes. Der Übertritt in eine Institution wurde unumgänglich. Der Schritt ins «Doldertal» war ein geplanter, aber kein einfacher. Der Heimeintritt löste starke Schuldgefühle bei ihr aus. Zum Glück lebte sich Vater rasch und gut ein, so dass sich diese rasch verflüchtigten. Im Heimalltag gab es eine Entschleunigung und Entspannung. Vater konnte so sein wie er ist, an der Seite von Menschen, die ihn genau so respektierten. Die Entlastung war gross, für alle.
Im Heim kam dann die Zeit der Versöhnung. Sowohl Vater als auch ich befanden uns in einer Art Transformation, um es etwas pathetisch auszudrücken: Sein Vergessen und mein Neuanfang waren eine Chance für unsere Beziehung. Als er nicht mehr wusste, wer ich bin, liess er mich näher an sich ran. Und nur wegen meiner eigenen Krise war ich bereit, diese Nähe zu suchen und zuzulassen. Klar, im Nachhinein wünschte ich mir, dass uns das zu einem Zeitpunkt gelungen wäre, als wir noch auf derselben Augenhöhe miteinander verkehrten, eben auch, um persönliche Fragen zu klären. Heute akzeptiere ich, dass es anders gekommen ist. Es ist gut, wie es ist.
Rein statistisch gibt es in der Stadt Zürich 10’000 Menschen mit Demenz und dreimal so viele Angehörige. Wo sind sie? Ich sehe sie nicht. In den paar Dutzend Demenzplätzen der städtischen Alters- und Pflegezentren? So unsichtbar die Betroffenen sind, so unüberichtlich ist das Angebot: Die Institutionen sind übers ganze Stadtgebiet verstreut, es ist mühsam und aufwendig, sich im Demenz-Dickicht und Bürokratie-Wirrwarr zurechtzufinden. Auch da möchte ich eine vermittelnde Rolle übernehmen:
Jährlich organisiere ich das «Demenz Meet», eine bunte Zusammenkunft für Erkrankte, Angehörige und Fachleute. Leichte Stunden zu einem schweren Thema, so das Motto. Die mehreren hundert Besucherinnen und Besucher aus Zürich, der Schweiz, ja auch aus dem Ausland, sollen sich begegnen und sich austauschen, zusammen lachen, streiten und weinen. Hauptsache, alle gehen am Abend nach Hause mit diesem einen Gedanken: «Heute war ein guter Tag!»
Vielleicht entsteht daraus eines Tages das Demenz Festival auf dem Sechseläutenplatz, ein lautes, buntes, verstörendes Festival, mit Musik, Live Streams im Netz, mit demenzgerechtem Streetfood, für Kinder und Alte, mit schwierigen und schönen Themen. Etwas Wildes und Unkontrollierbares. So ist ja auch die Demenz.