Der Querdenker, der bewegt

Daniel Wagner sagt von sich, er wisse nichts über Demenz und Alzheimer. Er ist weder Mediziner noch Pflegefachmann. Dafür weiss der 47-jährige Zürcher, wie Kommunikation funktioniert. Und genau die gibt ihm die Kraft, eine Szene aufzumischen – eine Szene aus Institutionen, Experten und Betroffenen.

Wagner schaut angestrengt in den Bildschirm. Die Augen sind nach dem langen Arbeitstag müde, der Verstand immer noch messerscharf. Auf dem Schreibtisch zwei leere Kaffeetassen und Stapel von Dokumenten. Die Facebook-Seite «Demenz Zürich» erscheint gross auf dem Screen. Eine Erinnerung taucht auf: Wagner lehnt sich zurück und besinnt sich auf den Moment, wo alles begann.

Damals, an einem heissen Sommertag im Jahr 2003, sass er in Shirt und Shorts auf dem Sechseläutenplatz. Die Luft flimmerte vor Hitze. Schweissperlen tropften ihm ins Gesicht. Er hatte sich mit seinem Vater verabredet. Der erschien mit zugeknöpftem Regenmantel – ungewöhnlich für einen Hochsommertag. Auf die Frage, wie lange er schon unterwegs sei, antwortete sein Vater: «Seit drei Uhr.» Tatsächlich war es erst kurz nach Mittag. Da wusste Wagner, was er schon lange vermutet hatte.

Diagnose: Alzheimer. 2012 starb sein Vater im Alterszentrum Doldertal. Zehn Jahre, die Spuren hinterliessen. Eine Zeit, in der Wagner nach Hilfe suchte und keine fand. Menschen informieren sich heute digital, sagt der 47-jährige Kommunikationsexperte. Früher fragten diese bei Hausärzten und medizinischen Institutionen um Rat. Heute seien es Google, Facebook und YouTube. Aber damals im Jahrhundertsommer fand Wagner nichts im Netz, was ihn ansprach. Die Informationen waren unvollständig, textlastig und zu wissenschaftlich. Kurz: Nicht das, was ein Betroffener braucht. Er fühlte sich alleine gelassen. So ergriff er selbst die Initiative und gründete nach dem Tod seines Vaters die digitale Plattform «Demenz Zürich».

Dabei verfolgt er einen radikal anderen Ansatz im Umgang mit Demenz: digital, progressiv und lebendig, nicht deprimierend und reguliert. Die Plattform verbreitet keine medizinischen und wissenschaftlichen Informationen, sondern praktischen Rat von anderen Betroffenen – persönlich und subjektiv. Ziel: Angehörige dementer Personen sollen sich verstanden fühlen. Sie tauschen sich über ihre Gefühle und Erfahrungen mit anderen Betroffenen aus. So entstand in kurzer Zeit eine Community, die von 2014 bis heute rasant gewachsen ist. «Demenz Zürich» hat sich als eine der grössten digitalen Communities rund um Demenz und Alzheimer im deutschsprachigen Raum etabliert.

Auf die Frage, wieso er viel Zeit und Geld in sein Engagement investiere, schmunzelt Wagner. Er mag es, auf der Bühne zu stehen. Er freut sich, wenn ihn eine wichtige Persönlichkeit aus der Szene als Demenz-Newcomer oder Demenz-Dani bezeichnet. Das zeuge von der grossen Wirkung, die er hätte, erzählt Wagner.

«Im Grunde will ich etwas bewegen, etwas verändern», sagt er ernsthafter. Die Krankheit seines Vaters habe ihm zugesetzt. In dieser Zeit habe er nicht die Kraft gefunden, etwas zu bewegen. Das änderte sich nach dem Tod seines Vaters. So wie ihm geht es vielen Betroffenen. Ihnen fehlt die Kraft, um rauszugehen und sich auszutauschen. Aber genau das würde ihnen helfen. Darum will er mit seiner Community Menschen eine Stimme geben.

Bewegung und Veränderung liegen in Wagners Natur. Langjährige Geschäftspartner bezeichnen ihn als Provokateur – auf positive Art und Weise. Er denkt «out of the box» und gegen den Strom. Er rüttelt auf und stachelt an, im Sinn der Sache und im Hinblick auf Veränderung.

Diese Denkweise lebte er schon immer – früher als Werbekonzepter, heute als Unternehmer. Seine unkonventionelle Art tut der Demenzszene gut. Pflegefachkräfte sind überlastet. Angehörige geraten in finanzielle Not, weil die Kosten für die Betreuung dementer Menschen nicht durch die Krankenkassen gedeckt sind. Die nationale Demenzstrategie des Bundes läuft Ende 2019 aus. Ohne klares Nachfolgeprogramm.

Wie soll das weitergehen? Wagner stellt sich immer wieder dieselbe Frage: «Welche Kraft haben 10’0000 Follower auf Facebook?» So entstand 2017 das erste «Demenz Meet» in Zürich. Die digitale Community traf sich erstmals real statt digital. Es war eine bunte Zusammenkunft von Angehörigen, Betroffenen und Fachpersonen. Auch hier blieb Wagner seiner Denke treu: unkonventionell, bunt und progressiv. Das Meet steht unter dem Motto: leichte Stunden zu einem schweren Thema. Ein Jahr später lancierte er eine weitere Ausgabe. Schon liegen Anfragen aus Basel, Wien und Stuttgart auf Wagners Tisch. Andere Betroffene wollen «Demenz Meets» in anderen Städten organisieren – als Franchising.

Das Ganze nimmt also grössere Dimensionen an. Wagner denkt weiter quer und sieht klare Chancen, die Kraft der Kommunikation zu nutzen. Er will Stimmen und Bedürfnisse aus der Community sammeln und am nächsten «Demenz Meet» verdichten. Daraus solle eine neue Demenzstrategie entstehen, weil der Bund patze, meint Wagner. Er plant eine Strategie von der Basis – von Angehörigen, Betroffenen und Fachleuten. Die Domain «www.demenzstrategie.ch» hat Wagner bereits reserviert. In seinem provokantem Jargon nennt er es «Annexion digitale».

Ungewöhnliches wie eine digitale Besetzung reizt Wagner. Es ist die Lust und Freude an Kommunikation. Das Unkonventionelle austesten, ohne Vorahnung, ob es klappt. Da sieht er den grössten Fehler der anderen Player in der Schweizer Demenz-Szene. Und meint damit alle Bereiche, die in irgendeiner Form mit Demenz zu tun haben: Forschung, Diagnose, Behandlung, Betreuung.

«Die meisten kommunizieren schlecht, einfach schlecht», sagt Wagner mit ernster Miene. Nur deswegen gäbe es «Demenz Zürich». Weil es vor ihm niemand gemacht hätte, keiner der grossen Player Mut dazu gehabt hätte. «Sie denken zu wenig frei und kämpfen für sich statt zusammen. Jeder diskutiert in seinen eigenen vier Wänden, statt gemeinsam an einem Strang zu ziehen», behauptet Wagner. Da kommt er als Host ins Spiel und gibt allen eine Möglichkeit, zusammen voranzuschreiten. Er sieht sich als eine Art Airbnb: Seine Plattform macht Veränderung möglich und gibt Betroffenen eine Stimme.

Gleichzeitig fordert Wagner mehr unternehmerisches Denken. «Die Demenz-Szene ist voller Gutmenschen», erklärt er. Doch Gutmenschen sähen Geldverdienen tendenziell als etwas Unmoralisches an, das sich nicht gehöre. Sie wollen anderen helfen, ohne daran zu verdienen. Von dieser Einstellung distanziert sich Wagner. Für den nächsten Demenz-Workshop hat er eine Expertin für Mikromimik engagiert. Die Referentin ist eine Koryphäe auf dem Gebiet. Sie schult Betroffene, damit sie die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz besser erkennen. Teilnehmende zahlen für den Tagesworkshop 490 Franken. Damit stösst er in seiner Community auf Widerstand. Viele sind der Meinung, das sei Abzocke. Wagner wundert die Reaktion nicht, bleibt aber gelassen: «Experten haben das Recht, Geld zu verdienen. Workshops in anderen Wirtschaftsbereichen kosten zwei, drei oder vier Mal so viel. Auch die Kosten für Administration und Infrastruktur müssen gedenkt sein.» Der Gedanke entspricht dem eines Social Business. Es leistet einen wertvollen Beitrag zu gesellschaftlichen Themen, ist aber selbsttragend. Die Kombination von Wirtschaftlichkeit und Sozialem Engagement reizt Wagner.

Wie die Zukunft konkret aussehen soll, weiss Wagner noch nicht. Er hat in den letzten vier Jahren aufgerüttelt und viel Gutes bewirkt. Er hat einfach mal gemacht, ohne Endziel. Er ist ein Macher, kein Philosoph, dafür aber ein Provokateur. Doch seine Motivation findet auch ein Ende. Sein Charakter entspricht dem eines Piloten, der das Flugzeug startet, bis der Autopilot übernimmt. Die Landung des Vogels überlässt er dem Co-Piloten. Deshalb zieht er in Betracht, sich bald zurückzuziehen. Dann soll ein frischer Wind wehen. Er ist überzeugt, dass «Demenz Zürich» auf einer breiteren Basis stehen muss – mit neuen Menschen dahinter. Klar ist: Lange wird es nicht dauern, bis Wagner anderswo aufrüttelt und verändert. Das gehört zu seinem Naturell.

Simon Gantner, 2019